Jemand kam mit einer Frage zu einem Sufi. Er sagte: "Seit vielen, vielen Jahren sinne ich darüber nach und lese verschiedene Bücher, und doch war ich nicht imstande, eine sichere Antwort zu finden. Sag mir, was geschieht nach dem Tod?"
Der Sufi erwiderte: "Frage dies bitte jemanden, der sicher sterben wird. Ich habe die Absicht zu leben."
aus: Die Schatzkammer des Königs - Sufi-Geschichten
von Hazrat Inayat Khan
In einer Sure des Koran heißt es: "Mutu kubla anta mutu",´das heißt: Stirb vor dem Tode! Ein Dichter hat gesagt: "Nur wer sich selbst verliert, wird den Frieden Gottes erlangen." Gott sagt zu Moses: "Kein Mensch wird leben, der Mich sieht." Um Gott zu schauen, müssen wir nicht-bestehend sein.
Was bedeutet das alles? Es bedeutet, dass wir - sobald wir unser Sein und Dasein mit offenen Augen sehen - erkennen, wie es zwei Aspekte unseres Wesens gibt: den trügerischen und den wahren. Das trügerische, vorgebliche Leben ist das dieses Körpers und Gemütes, die nur so lange bestehen, als das Leben in uns ist. In Abwesenheit dieses Lebens kann der Körper nicht länger bestehen. Wir halten das wahre Leben für das trügerische und das trügerische für das wahre.
Sterben bedeutet folgendes: Da ist eine Frucht oder eine Süßigkeit oder irgendetwas Wohlschmeckendes, und das Kind kommt zur Mutter und bittet: "Magst du es mir geben?" Auch wenn die Mutter es gerne selbst gegessen hätte, gibt sie es dem Kind. Die Freude der Mutter besteht darin, es dem Kinde zukommen zu lassen. Das ist Sterben. Die Freude ihres Lebens liegt in der Freude eines anderen. Wer seine Freude an der Freude anderer hat, tut den ersten Schritt zum wahren Leben. Wenn es uns befriedigt, jemandem einen schönen Mantel zu schenken, den wir gerne selbst getragen hätten, wenn wir uns darüber freuen, machen wir den ersten Schritt. Wenn wir von einem schönen Gegenstand so entzückt sind, dass wir ihn besitzen möchten, und diese Freude dann jemand anders schenken, und sein Erleben uns freut, sind wir "tot". Das ist unser Sterben, aber wir leben in höherem Grade als er. Unser Leben ist viel weiter, tiefer, größer.
Es hat den Anschein, als wäre es ein Verzicht, eine Vernichtung, aber in Wahrheit ist es Meisterschaft. Die wahre Bedeutung der Kreuzigung liegt in der Kreuzigung dieses irrigen, unwahren Selbstes, wodurch das wahre Selbst aufersteht. Solange das trügerische Selbst nicht gekreuzigt ist, wird das wahre Selbst noch nicht verwirklicht. Die Sufis nennen dies Faná, Vernichtung. Alle Bemühungen der wahren Weisen und echten Wahrheitssucher gelten dem einen Ziel, der Erreichung des Ewigen Lebens.
aus: Irdisches Glück und Himmlische Glückseligkeit
von Hazrat Inayat Khan
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